Sonntag, 8. April 2012

Theater hat fast nie Sex


Im Laufe der letzten Jahre habe ich sicherlich mehr als 100 Menschen getötet, auf der Bühne. 

Nicht durch mich persönlich, aber doch unter meiner Verantwortung, auch Regie genannt, wurde erschossen, gewürgt, erstochen, ertränkt, vergiftet, erschlagen, kurzum gemetzelt, wohl theatralisch überhöht, aber doch noch durchaus als Morden, respektive Sterben erkennbar. Mein persönlicher Rekord war wohl die Ausmerzung der gesamten Besetzung der "Räuber", inclusive des in die erträumte Märtyrerrolle fliehen wollenden Karl Mohr.

Aber Sex? Küsse, ja. Umarmungen, erotische Tötungen, sehr sinnliche Blicke und Dialoge, verklausulierte Ersatzhandlungen, mehr oder weniger deutliche Anspielungen, derbe Komik, aber kein Sex. Und auch in den Inszenierungen anderer kann ich mich nicht erinnern, dieser doch nicht unhäufigen Interaktion zwischen Menschen begegnet zu sein. Oder wenn, dann höchstens in ihrer Klamaukvariante: Sie, mit den gespreizten Beinen in der Luft, Er, wild rammelnd darübergebeugt oder ähnliche akrobatische Lustigkeiten. Oder als bedeutungsgeladenes Black. 
Aber Sex als intimer Kontakt zwischen Menschen? 
(Natürlich nicht naturalistisch nachgestellt oder -gelegt, aber in genaue und verstörende, berührende Bilder übersetzt.)  

Egon Schiele 1915,  Liebesakt Studie

Ich habe gelesen, dass es in Amerika weit einfacher ist trotz blutigster Brutalitäten eine "jugendfrei" Freigabe für einen Film durchzusetzen, als wenn eine Brust, zwei Brüste, ein Hintern oder, Gott verhüte, ein primäres Geschlechtsmerkmal durchs Bild wandeln. "The King's Speech", ein sehr empfehlenswerter Film, mußte die in den verzweifelten Sprechübungen des stotternden Königs auftauchenden "fucks" durch andere nicht sexuelle Flüche ersetzen, um die Freigabe ab 13 Jahren zu erlangen.

Vor Jahren habe ich eine Kurzgeschichte, ich glaube sie war von Peter Hacks, gelesen, in der ein junger Fremder eine ihm unbekannte Stadt besucht. Er betritt ein Haus, im Flur vögelt der Hausherr mit dem Dienstmädchen, auf dem leeren Tisch im Eßzimmer die Dame des Hauses mit dem Stallknecht. Die Tochter des Hauses bietet sich ihm unmißverständlich an. Er ist erstaunt, auch belustigt. Später aber, als er um eine Scheibe Brot bittet, reagieren alle Umstehenden mit tiefer Brüskiertheit. Gegessen wird hier heimlich, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, es ist tabu über die Nahrungsaufnahme zu reden. Verkehrte Welt?

 Egon Schiele Liebesakt

Nun arbeite ich am "Reigen" von Schnitzler und die Szenen werden von Irritierenden Strichellinien unerbrochen in denen, den Intentionen des Autors folgend, die Personen Sex miteinander haben, um anschließend ihren "unterbrochenen" Dialog weiterzuführen. Während des Aktes selbst wird nicht gesprochen. 
Und plötzlich stellt sich mir die Frage, warum wir so viel spielerischer und phantasievoller mit der Visualisierung unseres Gewaltpotentiales und unserer Sterblichkeit umgehen, als mit der Darstellung unserer Geschlechtlichkeit, die doch erst unsere Existenz ermöglicht - in der Fortpflanzung - und uns doch auch definiert, erfreut, ängstigt und lebendig hält.

Das Internet und die Nachtprogramme der Privatfernsehsender behaupten unseren "freien" und unverklemmten Umgang mit Sexualität, man könnte es auch den Übergang in die konsumierbare, marktwirtschaftlich verwertbare Form der Libido nennen. Aber das Theater, die alte Dame der darstellenden Künste, ziert sich.

Warum überlassen wir die Sexualität der Pornographie? Warum gestatten wir unserer Lust, Zärtlichkeit, Geilheit auf der Bühne nicht den gleichen Raum, den wir unserer Gewaltätigkeit einräumen?

Wiki sagt:
Sex erfüllt zahlreiche Funktionen: Er befriedigt die Libido, dient in Form des Geschlechtsverkehrs der Fortpflanzung und drückt in der Regel als wichtige Form der sozialen Interaktion Gefühle der Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe aus. Besonders in Liebesbeziehungen kann das Sexualleben eine zentrale Rolle als Ausdruck der Verbundenheit der Partner spielen. Er ist jedoch nicht ausschließlich an Liebesbeziehungen bzw. Partnerverbundenheit gekoppelt.


1 Kommentar:

  1. Schiele. Der inhaltliche Unterschied zwischen der Studie und dem Bild ist der Blick derer, die angesehen werden. Und durch diesen Blick wird auch das Rot zum inhaltlichen Unterschied und auch die Haltung der linken Hand des Mannes.

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