Sonntag, 19. Juni 2011

Menschen am Sonntag

Möglicherweise an einem Sonntag im Romanischen Cafe am Kurfürstendamm, in dem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde des Berlins der 20er Jahre, treffen sich fünf sehr junge Filmenthusiasten und ein älterer (Gliese war schon über dreissig!) und reden über eine Idee. Sie haben bisher wenig Möglichkeiten gehabt an Filme zu arbeiten, die großen Studios bleiben ihnen verschlossen. Ein zufällig am Nebentisch sitzender Mann (Seeler) hört das Gespräch, springt von seinem Platz auf und schreit: "Das müssen wir machen!". Und sie haben dann gemeinsam einen Film produziert. Über die Quellen der Finanzierung, 9000 Reichsmark, gibt es sehr unterschiedliche Erinnerungen. Es wurde entweder von einem Siodmak Onkel geliehen oder war das Honorar von Kurt Siodmaks erstem veröffentlichten Roman oder Ulmer hat das Geld bereitgestellt. Allerdings bezeichnete die Filmhistorikerin Lotte Eisner, Ulmer als den größten Lügner der Filmgeschichte, also wer weiss, was stimmen mag. Egal, dieses eine Mal arbeiten diese Männer, die später zu den Großen des Films gehören sollten, zusammen. 3 Jahre später ist fast keiner von ihnen mehr in Deutschland.

Menschen am Sonntag (People on a Sunday) ist ein Stummfilm in schwarz/weiss, 1929/30 in Berlin und Umgebung gedreht, von der eigens dafür gegründeten Produktionsfirma "Filmstudio".

Produzent: 
Moriz Seeler (1943 entweder in Riga oder in Theresienstadt umgekommen) 1922 gründete er die "Jungen Bühne" in Berlin, wo er Brecht, Bronnen, Zuckmayer und Fleisser - Stücke uraufführte und den Autoren zu ersten Erfolgen verhalf.

Moriz Seeler
Regisseure: 
Kurt (Curt) Siodmak (1933 emigriert) Erfolgreicher Science Fiction Autor und Drehbuchschreiber, in Hollywood Regisseur von zahlreichen Horror-und Science Fiction Filmen.

Kurt Siodmak
           
Robert Siodmak (1939 emigriert) Führte in Hollywood Regie u.a. bei "Die Wendeltreppe" (The Spiral Staircase) 1945, "Rächer der Unterwelt" (The Killers) 1946. Dieser Film gilt als Paradebeispiel des film noir. Nach Ende des Krieges drehte er auch wieder in Deutschland, unter anderem mit Heinz Rühmann.

Robert Siodmak
          
Edgar G. Ulmer (1930 in die USA ausgewandert) Szenenbildner und Regisseur, Hollywoods King of B-movies.

Edgar G. Ulmer
           
Fred Zinnemann (1929 in die USA ausgewandert) Regisseur u.a. von "Das siebte Kreuz", Zwölf Uhr Mittags" (High Noon), "Verdammt in alle Ewigkeit" (From here to Eternity), "Der Schakal" (The day of the Jackal) und "Julia" mit Jane Fonda und Vanessa Redgrave. Vier Oscars gewonnen und dazu noch fünf mal nominiert.

Fred Zinnemann
          
Rochus Gliese (trat kurz nach Beginn der Dreharbeiten von der Regie zurück, blieb in Deutschland und arbeitete hauptsächlich am Theater.)

Drehbuch: 
Kurt & Robert Siodmak (siehe oben)

Samuel Billie Wilder (1933 emigriert) Drehbuchautor und Regisseur. 6 Oscars! Die Liste seiner Filme klingt wie die ultimative Komödienliste, man denke nur an "Manche mögens heiß" (Some like it hot), Marilyn und ihre Ukulele im Schlafwagen. "Nobody is perfect!" Er war es fast.

Billie Wilder
Billie Wilder über den Film "Menschen am Sonntag": 
Es war eine Art cinéma vérité, aus gutem Grund: Wir hatten kein Geld für Schauspieler, also mussten wir vérité Menschen nehmen. Und wir mussten vor realen Hintergründen drehen."

"It was… kind of cinéma vérité, for a good reason: We didn’t have the money to have actors, so we had to take the people vérité. And we had to shoot in real backgrounds.”

Kamera: Eugen Schüfftan (1933 emigriert) Kameramann und Tricktechnik-Erfinder, Oskarpreisträger.

Laien-Darsteller als sie selbst: Erwin Splettstößer, Brigitte Borchert, Wolfgang von Waltershausen, Christl Ehlers, Annie Schreyer
und Kurt Gerron (1944 in Ausschwitz vergast), Valeska Gert (1939 emigriert)
u.v.a. 

Offizielle Zensur: 29.1.1930, B.24926 (2.014 Meter, 6 Akte) Jugendverbot

Es konnte nur am Sonntag gedreht werden, da die Laiendarsteller nur an diesem Tag frei hatten.


MENSCHEN AM SONNTAG. Keine Schauspieler, junge Berufsmenschen; drei Mädel und zwei Jungen. Berlin am Sonnabend, Sonntag und Montagmorgen. Ausflug nach Nikolassee; baden, photographieren und Wasserrad. Dazwischen lee- res Berlin, Fenster, Bänke, Siegesallee. Was ist das Besondere? Die zauberhafte Leichtigkeit des Bildflusses, musikalischer als in allen Tonfilmen? Der Humor, die Einfälle, die Frische, die Unbeküm- mertheit, die Spielfreude? Das Besondere ist, daß – vielleicht von selbst, vielleicht unbeabsichtigt – dieser Film zur ursprünglichen Geste zurückkehrt. Um so besser, wenn unbeabsichtigt. Die Geste kehrt an ihren Ursprung zurück, weil die Vorgänge selbstverständlich sind. Ein Ruder ist ins Wasser gefallen. Es muß herausgeholt werden. Eine Zigarette wird durchgebrochen. Geld wird auf den Tisch gelegt. Ein Mädchen blickt einen Jungen an. Eine Hand fährt übers Haar. Tausend Gebärden, tausendmal durch die Routine der Berufsschauspieler ihrer Ursprünglichkeit beraubt, ausnuanciert, verdorben und verkitscht. Ebenso verdorben und verkitscht wie die Vorgänge, die Handlungen, die zu diesen Gesten führen.
Ein junger Film. Ein deutsches Gegenstück zu dem amerikanischen Film EIN MENSCH DER MASSE [THE CROWD, King Vidor, USA 1928]. Ein junges Studio. Ein Gegenstück zur Gruppe Junger Schauspieler. Der Aufbau von unten beginnt. Hoffen wir es. Der Vorstoß gegen den Starfilm muß Folgen haben. Hier wurde an einem Filmtyp gearbeitet. Mit dem ausgezeichneten Operateur Eugen Schüfftan, mit den Regisseuren Robert Siodmak und Edgar Ulmer, mit dem Manuskriptverfasser Billie Wilder, mit den unberufsmäßigen Darstel- lern Brigitte Borchert (eine ausgesprochene Begabung), mit Christl Ehlers, Annie Schreyer, mit Wolfgang von Waltershausen, Erwin Splettstößer. 
Herbert Ihering in: Berliner Börsen-Courier, 5.2.1930

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