Mittwoch, 2. März 2011

Heimat

Ein Facebook-Freund hat mich auf die nachlässige Verwendung eines Wortes aufmerksam gemacht. HEIMAT. Ein Wort umstellt von Verdächtigungen und vollgestopft mit vagen Gerüchen und Geschmackserinnerungen (Meine Mutter erinnert nichts so gut wie genossene Speisen und ich, bzw. meine Zunge, haben da da auch eine grosse Sammlung.), patriotischem Gelaber, Landschaften, Narben, Farben, ersten Lieben und Sprachfetzen. Was ist Heimat?
Ich bin deutsche Jüdin ohne Religion, Kind eines arisch-anhaltinischen Spätkommunisten, aufgewachsen in der DDR, privilegiert, also früher als andere reisend, Berliner, mit starken Bindungen zur märkischen Schweiz, meine Sprache ist Deutsch, bin aber auch Anglomane und ich liebe Mischbrot mit Leberwurst. Ich bin "am" Theater.
Wikipedia: Das Wort Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Das Wort kann sich auf eine Gegend oder Landschaft, aber auch auf Dorf, Stadt, Land, Nation, Vaterland, Sprache oder Religion beziehen. Mit dem Wort „Heimat“ können somit nicht nur konkrete Orte, sondern ganz allgemein auch reale oder vorgestellte Objekte und Menschen bezeichnet werden, mit denen Menschen sich identifizieren und die sie positiv bewerten. Heimat ist die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. 
Warum nenne ich also Theater Heimat? Warum?
Egal wo ich in ein Theater komme, der Geruch ist immer derselbe. Vielleicht nebensächlich, aber ich habe eine empfindliche Nase. 
Theater kommt nicht ohne Sprache aus, selbst wenn es schweigt, ist das eine ausdrückliche Verweigerung von Sprache. Wenn Menschen ins Theater gehen, um zu spielen oder zu schauen, setzen sie sich Sprache aus. Wenn ich laufe, im Cafe sitze, lausche, Fernsehen gucke, facebook lese spüre ich, wie Sprache zerfällt. xoxoxo heisst Küsse und Umarmungen, LOL = laughing out loud (laut lachen), geil ist ohne sexuelle Konnotationen. Sätze mit mehr als fünf Wörtern fallen selten. Coolness ist erstrebenswert, nicht weil weniger gelitten wird, sondern weil Leidenschaften den eiligen, auf Ziele gerichteten Lebensablauf stören und so verflixt irrational bleiben, trotz aller leichtverdaulichen Psycho-Beratungsbücher und Cosmopolitan-Artikel. Wo nimmt man sich Zeit zum Untersuchen des Leidens? Im Theater.
Ich bin nicht der einzige Mensch mit diesen idiotischen Gedanken, Gefühlen, Ängsten? Da sind andere, die genauso blöd, panisch, schwach, wie ich sind? Ja. Heimat. Heimat, heisst nicht allein zu sein. Das gleiche Koordinatensystem, wie jemand anderes zu haben. Heimat ist Verständigung ohne jede Versprechung auf Ewigkeit.
Länder lösen sich auf, Theater werden geschlossen, Sprachen sterben aus.

8 Kommentare:

  1. Jens Mittelstenscheid schrieb: aus dem Herzen, meinem zumindest, getextet. Sprachfall, Ziel als Verfall, weil ohne wirkliche Fragen auf den Weg gegangen... Heimat, für mich u.a. die Möglichkeit in mir suchen zu können. warm, ängstlich, ich sein zu können.

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  2. HEIMAT-was für ein riesiges Thema!
    Seit 20 Jahren bin ich damit beschäftigt, den Sinn dieses Klangs zu ergründen. Vorläufiges Fazit:
    Heimat ist Ausgangspunkt und hat einen Sinn. Heimat hat einen Grund. Nichts ist zufällig.
    Heimat wird man nie los. Nirgends.

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  3. Ötti schrieb: Heimat - Vertrautheit für die Sinne.
    Vertrautheit wertet nicht. Die ist da oder nicht.
    Die Wertung nimmt dann der Kopf vor, vielleicht gegen das Gefühl.

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  4. Hatto Fischer commented on your link.
    Hatto wrote: "Die Grünen veranstalteten vor zwei Jahren eine Konferenz mit dem Titel 'Heimat - wir suchen noch!'. Es gab dazu eine Menge Diskussionen doch mir fällt dazu ein der Satz von Jean Amery 'man hat nur so viel Heimat wie man sie nicht nötig hat'. Und ein anderer Heimatbegriff ist im Grunde genommen das was die anderen von einem in ihren Erinnerungen bewahren."

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  5. Nachtrag von Ötti: Vertrautheit vielleicht nur erst mal für die Sinne.
    Vielleicht eher für einen Gefühlskern, der nicht immer bewusst sein muss.
    Diese seltsamen Heimatgefühle bei irrationalen Déjà-vu-Erlebnissen. Dieses eigenartige: Hier gehöre ich hin, obwohl ich nie da war und schnell wieder weg möchte.
    O je.

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  6. Brockhaus: In ethologischer und anthropologischer Hinsicht reflektiert Heimat zunächst das Bedürfnis nach Raumorientierung, nach einem Territorium, das für die eigene Existenz Identität, Stimulierung und Sicherheit bieten kann (Paul Leyhausen, * 1916).

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  7. Sich mit einem Menschen tief verbunden fühlen. Oder mit einer Situation. Oder Worte, die einen bis tief ins Mark berühren. Das Gefühl: Das hier ist genau richtig. Sich sicher fühlen, angenommen, angekommen. Wenn auch nur für Momente, man vergißt es nicht. Das ist Heimat.

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  8. Martin Baucks wrote: "...heute morgen in der badewanne wurde es mir wieder klar...theater ist ein vielschichtiges lügengebäude ähnlich der liebe...und man bekommt nur ganz selten ein paar gute küsse ab, denen man glauben kann...sich in ihnen beheimatet zu fühlen, birgt ein hohes risiko...macht aber auch viel freude...in diesem sinne wünsche ich einen guten flirt mit dem sonntag morgen in ingolstadt..."

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