Sonntag, 20. Februar 2011

Entwederoder oder Sexismus für Anfänger

"Der gute Mensch von Sezuan", Bertolt Brechts Stück, geschrieben zwischen 1930 ("Die Ware Liebe") und 1938/40, uraufgeführt 1943 unter der Regie von Leonard Steckel in Zürich, nun 2011 in Stuttgart in einer Inszenierung von Thomas Dannemann.
Zuerst und zuletzt: ich mag das Stück nicht sehr. Es scheint mir, das simplifizierendste und gefälligste von Brechts Stücken zu sein und verwendet Mann/Frau Klischees in einer Weise, die mir weder Überraschungen auftut, noch irgendwie politisch provozierend wirkt. Dies gesagt, weiß ich aber auch, dass es, wie man so schön sagt: funktioniert. Gerade seine Sentimentalität trifft wohl ganz unepisch, die "Herzen" der Zuschauer.
Gestern abend war ich in einer von Stuttgarts Übergangsspielstätten, der Arena. Ein ehemaliges Mercedes-Autohaus wurde für die Zeit der Sanierung des Schauspielhauses, mit großem Aufwand und immenser Kreativität, zu einem, drei Bühnen, die gleichzeitig bespielt werden können, umfassenden Ausweichstheater umgebaut.

Der "Sezuan"-Bühnenraum, riesig, mit Fenstern die ganze Hinterwand einnehmend, durch die man in der Dunkelheit reale Landschaft erahnen kann, zwischen Säulen vorn ein Boxring, links hinten über Eck zwei deckenhohe Raubtier -oder Affenkäfige, eine kleine Fläche mit Tabakpflanzen vorn links, auf einer zweiten Ebene noch ein Extraraum mit Plastik-Restaurant-Ausstattung, hinten vor den Fenstern, Trainingsgeräte und Sitzgelegenheiten. Also ein Labyrinth, sehr reizvoll, weil zum Hauptfokus mehrere Vorgänge simultan hinzuaddiert werden und man die Freiheit hat, auch mal abzuschweifen. Die Akustik des Monsterraumes geht, trotz cleverer Unterstützung durch Richtmikrophone und gelegentlichem Einsatz von Handmikros, knallhart auf die Stimmen der Spieler und das hört man gelegentlich auch, oder man hört halt nicht so recht. Auch ist der Grundumgangston der Figuren, damit notwendigerweise auf einer beträchtlichen Lautstärke eingepegelt und das die Schauspieler trotzdem einen meist sehr direkten und klaren Ton behalten, ist keine unbeträchtliche Leistung. Überhaupt ein starkes Ensemble eigenwilliger, individueller Leute.

Die Kostüme - Latex, super genau auf die einzelnen Charaktere gedacht und immens einfallsreich und witzig. Hier beginnt für mich das Konzept. Soweit ich es begriffen habe, siedelt Dannemann Sezuan in einer Welt der sozial und sexuell Unbefriedigten und Unzufriedenen an, verständlich, da reißender Hunger als Symptom für Armut im heutigen Deutschland schwerlich funktionieren würde. (Nein, heute werden die sozial Unterprivilegierten mit übersüßten Fettmachern und Fastfood-Maxiportionen in die wehrlose Apathie gefüttert.) Also alles in Latex, mit Zitaten typisierender Modeaccessoires, wie Latex-Polohemden oder rosa Latex-Socken. Das macht Spass. Aber dazu gibt es noch eine Zirkusebene und den Boxring und das im Text nicht wegzusprechende Elend. Das reibt sich und auf nicht uninteressante Weise. Shen-Te ist eine Prostituierte, wir sehen sie zu Beginn, über Video, beim Telefonservice eines Kaviar bevorzugende Kunden. Das ist gut gespielt und setzt einen harten, aber nicht moralisierenden Ausgangspunkt. Aber dann passiert was Merkwürdiges, die Provokation der Inszenierung wird zur Animation der uneingestandenen Lüste des lieben Publikums. Es fühlt sich gekitzelt. Peep Show entsteht. Huch, wie geil, Sextoys und Fetisch-Assoziationen, Gewaltexzesse und coole Musik und dagegen gesetzt die einfache starke Liebe der Shen-Te. Und da stecken sie, trotz allem dagegen Anrennen, wieder in der Falle der Stückkonstruktion.
"Ich werd mit dem gehen, den ich liebe. Ich werde nicht ausrechnen, was es kostet." (ungefähres Zitat). Das ist Schmalz und keine Gesellschaftskritik.
Aber ich habe mich keine Sekunde gelangweilt, was mir bei diesem Stück noch nie gelungen ist. Ich habe die Ljubimow Inszenierung vom Taganka Theater zur Hälfte gesehen und selbst in der Fassung, des von mir sehr verehrten Giorgio Strehler mit Andrea Jonasson, habe ich mit dem Schlaf gekämpft.
Aber an dem Abend des Gastspiels des Piccolo Theaters, in den Achtzigern in der Volksbühne, habe ich auch Heiner Müller kenengelernt. Also verdanke ich dem "Guten Menschen von Sezuan" doch sehr viel.

Brücke in Sezuan - China.

4 Kommentare:

  1. ich habe in meinem 20 jährigen schauspielerleben 7 mal brecht gespielt und 4 mal war latex im spiel. eigentlich immer eher sporadisch und meistens in der dreigroschenoper aber mann ist mann habe ich 1990 in latexunterwäsche gespielt etc.
    ich glaube brechts späte rückrache auf die tatsache das das bürgertum ihn heute eigentlich zum wahren liebling erklärt hat ist die fast lebendige reaktion seiner stücke auf interpretation und modernisierung. der zuschauer merkt das nicht immer aber aqls schauspieler spürt man es oft sehr schmerzhaft.
    am interessantesten jedoch ist, das die ganzen doofen ungebildeten theaterleute selber immer vom kalten, didaktischen brecht reden. schande über jene

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  2. Mir ging es ähnlich, aber das lag bei mir n u r an den Inszenierungen. Hin und wieder rissen mich Pauken artig wunderbare Textpassagen aus dem Tiefschlaf hoch, mehr nicht. Keiner der Regisseure vertraute wirklich dem poetischen Text Brechts. Sie betrachteten ihn als "Lehrstück" und glaubten, ihn aufmotzen zu müssen mit Orden und Lametta, bis er bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde.
    Einige Kracher aus dem Stück haben sich für immer eingebrannt, wie: Manchmal braucht man, um nur ein Stück Brot zu erheischen, Kräfte, mit denen man Schlachten gewinnt. (sinngemäß) Oder exakt: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ (als Schlusswort im Literarisches Quartett überstrapaziert, weil es kaum ein besseres gibt)
    „Gute Taten, das bedeutet Ruin!“ (deckt sich mit meiner Selbsterfahrung, die ich in der "Dritten Welt" immer wieder auf's Neue mache...etc. Ein Stück über Gut und Böse, Arm und Reich, Vorurteile, Mutterliebe, Glaubenszweifel, etc. Es macht Freude. Ich entdecke darin immer wieder Neues. Und vielleicht schafft es mal ein Regisseur, sich hinten an zu stellen und nur die Poesie Brechts sprechen zu lassen. Dann wird es ein vergnüglicher Theaterabend mit nachhaltiger Wirkung.

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  3. Ab Donnerstag bin ich wieder, dort, wo "Gute Taten den Ruin bedeuten", unter meinen Companeros in den Niederungen von Venezuela für ein halbes Jahr,- mas o menos. Aber die Poesie ist keine Frage der Geographie, sie ist wie der Staub an den Sohlen, folgt einem überall hin.

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  4. Das Theater ist im Gegensatz zu ALDI ein sinnlicher&spiritueller Ort, wo es nicht darum geht, dass man Regale füllt. Weinger ist mehr und noch weniger ist viel mehr. Je stärker der Text und die Parabel, etwas das man dem Stück nicht absprechen sollte, desto w e r b e u n r e l e v a n t e r muss man es spielen. Es handelt sich schliesslich hierbei nicht um eine Dosensuppe die man mit halb nackten Frauen bewerben muss, damit sie jeder Idiot frisst, nur dem Darm zu Liebe. Man sollte im Kulturbetrieb Strafen einführen für geistige&sinnliche Körperverletzung, wie auch im Städtebau übrigens. Das Problem ist aber dabei: Wer darf darüber richten?

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